Erfolg für die Verteidigung – OLG Karlsruhe hebt Verurteilung wegen unterlassenem sofortigem Schaffen freier Bahn für Einsatzfahrzeug auf
Oberlandesgericht Karlsruhe, Beschluss vom 26.04.2023, Az. 1 ORbs 35 Ss 146/23
In einem von uns geführten Verfahren hat das Oberlandesgericht Karlsruhe mit Beschluss vom 26.04.2023 (Az. 1 ORbs 35 Ss 146/23) ein Urteil des Amtsgerichts Mosbach aufgehoben, in dem unser Mandant wegen fahrlässigen Unterlassens, einem Einsatzfahrzeug mit Blaulicht und Einsatzhorn sofort freie Bahn zu verschaffen, zu einer Geldbuße von 240 € und einem einmonatigen Fahrverbot verurteilt worden war.
Was war passiert?
Unser Mandant, Berufskraftfahrer, wurde beschuldigt, auf der BAB 81 einem Polizeifahrzeug mit Blaulicht und Einsatzhorn nicht rechtzeitig Platz gemacht zu haben. Das Amtsgericht Mosbach stützte seine Verurteilung im Wesentlichen auf die Aussage einer Polizeibeamtin, die angab, unser Mandant hätte das Einsatzfahrzeug wahrnehmen und den Überholvorgang abbrechen müssen.
Unsere Argumentation und der Erfolg vor dem OLG
Wir haben gegen das Urteil Rechtsbeschwerde eingelegt und insbesondere gerügt, dass die Feststellungen des Amtsgerichts zur Wahrnehmbarkeit der Sondersignale und zur konkreten Verkehrslage lückenhaft und widersprüchlich seien. Das OLG Karlsruhe hat unserer Argumentation vollumfänglich entsprochen:
- Die Feststellungen des Amtsgerichts zur Wahrnehmbarkeit von Blaulicht, Sirene und Hupen waren widersprüchlich und nicht ausreichend belegt.
- Es fehlten konkrete Feststellungen zur Entfernung des Einsatzfahrzeugs, zur Geschwindigkeit der beteiligten Fahrzeuge und zur Möglichkeit, den Überholvorgang gefahrlos abzubrechen.
- Das OLG betont, dass die Anforderungen an die Wahrnehmbarkeit und das Verhalten des Verkehrsteilnehmers stets von den konkreten Umständen abhängen und nicht pauschal angenommen werden dürfen.
Bedeutung für die Praxis
Der Beschluss des OLG Karlsruhe zeigt, dass eine Verurteilung wegen unterlassener Freigabe für Einsatzfahrzeuge mit Blaulicht und Einsatzhorn nur auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage erfolgen darf. Die Gerichte müssen sorgfältig prüfen, ob und wann das Einsatzfahrzeug tatsächlich wahrgenommen werden konnte und welche Handlungsalternativen dem Betroffenen in der konkreten Situation offenstanden.
Fazit: Wer sich mit einem Bußgeldbescheid wegen angeblich unterlassener Freigabe für Einsatzfahrzeuge konfrontiert sieht, sollte die Vorwürfe und die Beweislage genau prüfen lassen. Wir stehen Ihnen als erfahrene Verteidiger im Verkehrsrecht zur Seite.
Volltext
Oberlandesgericht Karlsruhe
- SENAT FÜR BUSSGELDSACHEN
Beschluss
In dem Bußgeldverfahren gegen […] geboren am […], wohnhaft: […], Verteidiger: Rechtsanwalt Günter Grüne, Friedhofstraße 11, 97421 Schweinfurt, Gz. 419/22 GG wegen Verkehrsordnungswidrigkeit
hat das Oberlandesgericht Karlsruhe
- Senat für Bußgeldsachen durch die Richterin am Oberlandesgericht […] als Einzelrichterin am 26. April 2023 beschlossen:
- Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Mosbach vom 15. Dezember 2022 mit den zugrundliegenden Feststellungen aufgehoben.
- Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Mosbach zurückverwiesen.
Gründe
I. Mit Urteil des Amtsgerichts Mosbach vom 15.12.2022 wurde gegen den Betroffene wegen fahrlässigen Unterlassens, einem Einsatzfahrzeug mit Blaulicht und Einsatzhorn sofort freie Bahn zu verschaffen, eine Geldbuße von 240 € festgesetzt und ihm unter Einräumung der Vier-Monats-Frist des § 25 Abs. 2a StVG für die Dauer von einem Monat verboten, Kraftfahrzeuge jeglicher Art im Straßenverkehr zu führen.
Hiergegen wendet sich die form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde des Betroffenen, die auf die Verletzung materiellen und formellen Rechts gestützt wird.
Die Generalstaatsanwaltschaft trägt mit Schrift vom 31.03.2023, welche dem Verteidiger formlos übermittelt wurde, auf Aufhebung des Urteils an.
II. Das zulässige Rechtsmittel hat schon im Hinblick auf die erhobene Sachrüge vorläufigen Erfolg, da das angefochtene Urteil sachlich-rechtlicher Prüfung nicht standhält. Auf die darüber hinaus erhobene Rüge der Verletzung formellen Rechts kommt es daher nicht mehr an.
Die teilweise widersprüchlichen und lückenhaften Urteilsausführungen tragen die Annahme eines fahrlässigen Unterlassens, einem Einsatzfahrzeug mit Blaulicht und Einsatzhorn sofort freie Bahn zu verschaffen, nicht.
In ihrer Antragsschrift vom 31.03.2023 führt die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe wie folgt aus:
III. Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Die Urteilsfeststellungen sind nicht frei von Lücken, Widersprüchen und Verstößen gegen Denk- und Erfahrungssätze. Sie bilden deshalb keine tragfähige Grundlage für die Prüfung, ob das Recht, insbesondere § 38 Abs. 1 StVO, auf den festgestellten Sachverhalt richtig angewendet wurde. Das angefochtene Urteil ist deshalb schon auf die allgemeine Sachrüge hin aufzuheben (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, Strafprozessordnung, 65. Aufl. 2022, § 337 Rn. 21 m.w.N.).
Gemäß § 38 Abs. 1 StVO haben alle Verkehrsteilnehmer Einsatzfahrzeugen mit blauem Blinklicht und Einsatzhorn sofort freie Bahn zu schaffen. Dies setzt zunächst die Wahrnehmbarkeit der Zeichen voraus (Kettler in: Münchener Kommentar zum StVR, 1. Auflage 2016, § 38 StVO Rn. 2). Hiervon kann beispielsweise dann ausgegangen werden, wenn sich das Einsatzfahrzeug in der Nähe, etwa 50 Meter entfernt, befindet (vgl. KG Berlin, Urteil vom 08.01.2001 12 U 7095/99- juris, Rn. 13).
Was freie Bahn schaffen bedeutet und welche Maßnahmen der Verkehrsteilnehmer treffen muss, um dem Sonderrechtsfahrzeugführer die ungehinderte Weiterfahrt zu ermöglichen, hängt sodann von der konkreten Verkehrslage und den örtlichen Verhältnissen ab (vgl. HeR in: Burmann/Heß/Hühnermann/Jahnke, Straßenverkehrsrecht, 27. Auflage 2022, § 38 StVO Rn. 4; Kettler a.a.O. § 38 Rn. 2; OLG Köln, Beschluss vom 13.01.1984 1 Ss 905/83- juris).
Nach diesen Grundsätzen können die Feststellungen des Amtsgerichts Mosbach zur Wahrnehmbarkeit der Zeichen sowie zur konkreten Verkehrslage und den örtlichen Verhältnissen den Schuldspruch nicht tragen. Das Amtsgericht Mosbach stützt seine Feststellungen allein auf die Angaben der Polizeiobermeisterin […]. Diese gab an, der Betroffene hätte das mit Blaulicht, Sirene und Hupe anfahrende Einsatzfahrzeug wahrnehmen müssen, da sie mit ihrem Kollegen, der nicht vernommen wurde, nur ca. 1 km auf übersichtlicher Strecke hinter dem LKW gefahren seien, als dieser ausgeschert sei“ S. 3 d.Urt. Weiter gab die Zeugin an, der Betroffene hätte den eingeleiteten Überholvorgang auch abbrechen können.
Hierdurch sah das Amtsgericht die Einlassung des Betroffenen als Schutzbehauptung widerlegt, er habe, bevor er zum Überholen eines anderen LKW ansetzte, den rückwärtigen Raum im Rückspiegel betrachtet und das mit sehr hoher Geschwindigkeit fahrende Polizeifahrzeug erst dann wahrgenommen, als der Überholvorgang beendet war.
Das Amtsgericht legte seinen Feststellungen hiernach zu Grunde, dass der Betroffene den Einsatzwagen hätte bemerken müssen, auch schon beim Ausscheren, da der Polizeiwagen nur wenige hundert Meter auf übersichtlicher Strecke hinter ihm gewesen war“ jedenfalls aber den Überholvorgang hätte abbrechen können, wie es die Zeugin bekundete (S. 4 d. Urt.).
Die Feststellungen zur Wahrnehmbarkeit von Blaulicht, Sirene und Hupen sind nicht frei von Widersprüchen. Obwohl die Zeugin […] bekundete, das Einsatzfahrzeug sei im Zeitpunkt des Ausscherens durch den Betroffenen ca. 1 km von diesem entfernt gewesen, geht das Amtsgericht bei seinen Erörterungen zur Wahrnehmbarkeit von wenigen hundert Metern aus. Soweit das Amtsgericht mit wenigen hundert Metern einen Kilometer bezeichnen wollte, genügen die getroffenen Feststellungen zu den örtlichen Verkehrsverhältnissen („übersichtlich“) jedenfalls nicht, um den Schluss auf eine Wahrnehmbarkeit zu rechtfertigen. Eine akustische Wahrnehmbarkeit bei einer Entfernung von einem Kilometer ist, auch in Anbetracht der Motor- und Fahrgeräusche zweier LKW, eher fern liegend.
Sind bereits die Feststellungen zur Wahrnehmbarkeit nicht vollständig und widerspruchsfrei, so kann aber auch die Frage nicht verlässlich beurteilt werden, ob der Betroffene das von ihm eingeleitete Überholmanöver hätte unterlassen müssen oder jedenfalls noch hätte abbrechen können. Für die Beantwortung dieser Frage fehlt es zudem an ausreichenden Feststellungen zur konkreten Verkehrslage. Nicht festgestellt wurde beispielsweise, mit welcher Geschwindigkeit sich die beiden LKW fortbewegten oder mit welcher Geschwindigkeit das herannahende Polizeifahrzeug fuhr. Soweit auf den möglichen Abbruch des bereits eingeleiteten Überholmanövers als Anknüpfungspunkt für ein sorgfaltswidriges Verhalten abgestellt wird, fehlt es an Feststellungen dazu, wie die jeweilige Fahrposition der beiden LKW zum maßgeblichen Zeitpunkt war. Es kann daher nicht beurteilt werden, ob von dem Betroffenen zu verlangen war, sein Überholmanöver abzubrechen, indem er sich wieder zurückfallen ließ und auf die rechte Seite herüberzog oder es vorzuziehen gewesen wäre, den Überholvorgang zu beenden. Dies gilt umso mehr, da mangels hierzu getroffener Feststellungen nicht ausgeschlossen werden kann, dass der auf der rechten Fahrspur befindliche LKW, dessen Fahrer nicht vernommen wurde, seine Fahrt, wie unter LKW-Fahrern üblich, verlangsamt hat.
IV. Nach alledem ist das Urteil des Amtsgerichts Mosbach mit den zugrundeliegenden Feststellungen aufzuheben, § 79 Abs. 3 S. 1 OWiG, 353 Abs. 1, Abs. 2 StPO. Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat an. Da weitere tatsächliche Feststellungen getroffen werden müssen, ist dem Senat eine eigene Sachentscheidung nach § 79 Abs. 6 OWiG verwehrt. Das angefochtene Urteil war deshalb mit den getroffenen Feststellungen aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens – an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 79 Abs. 3 S. 1 und Abs. 6 OWiG i.V.m. § 354 Abs. 2 S. 1 StPO). Für eine Zurückweisung an eine andere Abteilung besteht kein Anlass.
Die Zuständigkeit des Einzelrichters folgt aus § 80a Abs. 1 OWiG, eine Übertragung der Sache nach § 80a Abs. 3 OWiG an den Senat für Bußgeldsachen in der Besetzung mit drei Richtern kam nicht in Betracht.
[…] Richterin am Oberlandesgericht